Sport ist fort

Sport ist für mich immer ein problematisches Thema gewesen.
Ich vermute stark, dass jede(r) mit einer Autoimmunerkrankung in irgendeiner Weise mit dem Thema hadert. Die Erkrankung macht uns so unendlich müde. Gleichzeitig kriegen wir von allen Seiten immer und immer wieder gesagt, wie gut und wichtig Sport für die Gesundheit ist.
Da stehen sich das „Wollen“ und das „Können“ oft sehr unangenehm gegenüber und wir fühlen uns un-fähig, un-fit, un-diszipliniert und schwach.
Wenn es dir auch manchmal so geht, dann möchte ich dir hier zeigen, wie du das Thema mithilfe einer anderen, positiven Einstellung für dich ent-stressen kannst.

Der innere Widerstand

Ich laufe seit ich 16 bin.
Damals habe ich gedacht, dass sportliche Bewegung immer Überwindung kostet, dass da ein Widerstand, eine „natürliche Faulheit“ in uns ist, die überwunden werden muss.
Es heißt ja auch oft, dass jemand „den inneren Schweinehund überwinden“ muss, oder „die Zähne zusammenbeißen“.
Das sind alles Redewendungen, die im Zusammenhang mit Sport gern verwendet werden und die zeigen, dass es bei vielen Menschen so ist. 

Oft war es bei mir sowohl ein mentaler Widerstand, als auch ein körperlicher, der mir das erste Loslaufen schwer machte.
Manchmal war es nur der mentale Widerstand, es passte gerade nicht, die Zeit war mir zu knapp.
Meistens aber war ich eigentlich motiviert und hatte mir die Zeit fest eingeplant, die Joggingschuhe und der Pulsmesser lagen bereit, die Sachen waren gewaschen, aber… ich fühlte mich müde und hatte entweder noch Muskelkater vom letzten Lauf, oder irgendein Gelenk begann nach ein paar hundert Metern zu zwicken.
Dann spürte ich ihn, den Widerstand, den Schweinehund, aber da ich nun einmal auf der Laufstrecke war, konnte ich ihn überwinden. 

  • ich biss die Zähne zusammen. 
  • ich feilte am Laufstil 
  • ich dehnte und lockerte
  • ich lief langsamer 
  • ich ging zur Orthopädin 
  • ich las Bücher über das Laufen 
  • ich trug Einlagen

Jahrelang. Meine Beharrlichkeit machte mich stolz.
Ich war in der Lage, den Widerstand, den ich spürte, mit meiner Willenskraft zu überwinden! Tschacka! 

Die ganzen Jahre vor meiner Colitis ulcerosa schaffte ich es zwar, regelmäßig laufen zu gehen, ich wurde aber nicht wirklich besser. Mein Traum vom Halbmarathon rückte manchmal in greifbare Nähe, aber dann kam im Winter die Erkältungsphase dazwischen und alles rutschte wieder auf Null… 

Haufen von alten SportschuhenQuelle: Margherita Minuzzi
Auf der Suche nach dem richtigen Schuh… Foto: Margherita Minuzzi

Man mag sich fragen, warum ich das Ganze überhaupt so lange durchzog.

Es ist so, dass das Laufen für mich schon immer eine schöne Gelegenheit war, alles zu vergessen. Wenn ich laufe, stellt sich nach einer Weile ein ruhiger, fast meditativer Zustand ein und mein Kopf wird angenehm leer. Hinterher bin ich außerdem immer besser gelaunt als vorher, ob es mir nun leichtfiel oder nicht. 

Nach der Diagnose Colitis ulcerosa schlurfte ich zwischen den Schüben ab und zu langsam durch den Stadtpark. Fit wurde ich nicht mehr, aber das Laufen gab mir das gute Gefühl, wenigstens etwas für meine Gesundheit zu tun, auch wenn es sich nicht besonders gesund anfühlte. 

Nach meiner Kolektomie war es nicht anders, nur dass ich beim Laufen immer Angst hatte, zu viel Wasser und Elektrolyte zu verlieren und daher nie lange lief.

Ein Schlüsselerlebnis

Ein witziges Erlebnis, das mir endlich die Augen öffnete, war die Ernährungsumstellung. Eigentlich war es die Ernährungsumstellung in Kombination mit einem neuen Pulsmesser.
Er arbeitet mithilfe der Herzfrequenz-Variabilität und „diagnostiziert“ mir so, aufgrund vieler Parameter durchaus glaubhaft, den aktuellen Fitnesszustand. 

Das Ding sagte hartnäckig „Mittel“, was mich sehr wurmte, denn ich fuhr täglich 10 km Rad, ich hatte ein Kleinkind im Kindersitz dabei und ich ging zweimal die Woche im Wald laufen. Ich machte in Sachen Bewegung doch alles richtig!?
Aber der Index blieb stur: Mittel. 

Dann kam die Phase mit meinem Burnout und ich machte erst einmal so gut wie nichts, außer wie ein Zombie zur Arbeit zu gehen und abends zu weinen. Kein Sport mehr! 

Aber ich fing an, glutenfrei zu essen und begann mit Vitamin D.
Und eines schönen Tages…

Tagebucheintrag vom 21.5.17
Ich habe eben den Fitness Test in meinem Pulsmesser gemacht.
Own Index 36, Fitness ist GUT. Hä?
Erstaunlich, seit dem letzten Mal war ich vielleicht  zwei-drei Mal laufen!
Offenbar macht die Ernährungsumstellung sich positiv bemerkbar! 

Ich war total baff!
Konnte es tatsächlich sein, das die Fitness weniger vom Sport abhängig war als von der Ernährung? 

Ehrlich, heute muss ich über soviel Kurzsichtigkeit lachen.
Natürlich ist das so! Ich war jahrelang krank!
Ich lief zweimal die Woche krank und mangelernährt durch den Wald!
Wie hätte dieses Laufen je meinen Fitnesszustand verbessern können? 

Und doch war das jahrelang meine Überzeugung: Dass ich einfach mehr Disziplin brauche, mehr Training, mehr Regelmäßigkeit. 
Der Sport hatte nach meiner damaligen Weltsicht ausschließlich positive Wirkungen auf den menschlichen Körper. Das konnte man ja überall nachlesen.
Mangels spezieller Bildung war mir lange tatsächlich nicht bewusst, dass Sport für den Körper eben auch ein Stressfaktor ist. 

Fasstheorie

Um zu verstehen, wieso der doch eigentlich gesundheitsförderliche Sport trotzdem so schädlich wirken kann, können wir uns das Diathese-Stress-Modell heranziehen.
Es wird auch als „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ oder schön plakativ als „Fasstheorie“ bezeichnet.

Diathese-Stress-Modell-DiagrammQuelle: Margherita Minuzzi

Diathese-Stress-Modell, Auswirkungen wechselnder Belastungen über eine Entwicklung der Anfälligkeit
Quelle: Wikipedia Urheber: Iroqu CC BY-SA 3.0

Es ist ein anerkanntes Erklärungsmodell aus der klinischen Psychologie und der Gesundheitspsychologie, das sich auf chronische Krankheiten übertragen lässt, da auch hier ein multifaktorielles Geschehen vorliegt. 

In dem Modell wird anschaulich gemacht, wie Krankheitsneigung (Diathese) und Stress miteinander zusammenhängen.
Es wird dabei angenommen, dass zur Entwicklung einer Störung oder eines Symptoms beide Faktoren – Stess und Krankheitsneigung – nötig sind. 

Die „Krankheitsneigung“ meint im Zusammenhang von Autoimmunkrankheiten die „Disposition“ (lat. dispositio = „Aufteilung“, „Anordnung“). Diese könnten wir noch feiner unterteilen in die genetische Prä-Disposition und die epigenetische Programmierung.

Diese Disposition gibt an, ob ein Mensch eine Neigung, man könnte auch sagen, die Voraussetzungen dafür besitzt, in einer bestimmten Weise auf Belastungen zu reagieren.

Doch nicht nur die Disposition bestimmt, ob ein Symptom auftritt, sondern auch die Stärke der Stressoren, also unsere Belastungen.
Im Diagramm sind sie dargestellt durch unterschiedlich hohe braune Säulen.
Sind die Stressoren sehr groß, überschreiten sie eine Grenze und es kommt zu einzelnen Symptomen, zu einem Schub oder zum Ausbruch einer Krankheit. 

Der Clou dabei ist: Alle Stressoren können und müssen sich aufaddieren! 

Das Aufaddieren wird deutlicher, wenn du das Diagramm nicht mit einzelnen Stressor-Säulen und der Zeitachse, sonders als ganzes Fass betrachtest. 

Stell dir vor, du bist ein Fass, und oben gießt das Leben Stressoren hinein. Hitze, falsche Ernährung, Kummer, Sport, Lärm… Die vermischen sich alle zu einer Suppe.
Unten am Boden und an den Wänden hast du deine Disposition, deine Krankheitsneigung. Die könnten wir uns wie verschiedene Einbauten in dem Fass vorstellen, etwa einen doppelten Boden oder Querverstrebungen und irgendwelche Teile an den Wänden, die Platz in Anspruch nehmen. 
Das heißt, die Fähigkeit Stressoren aufzunehmen (zu verarbeiten), wird von der genetischen Prädisposition beschnitten. 

Wir sind anders

Es gibt Leute die haben ein optimales, wohlgerundetes Fass, ohne irgendwelche Einbauten. Sie können maximal viel Stress verarbeiten. 

Wir aber haben offenbar ganz viel Kram in unserem Fass, der dazu führt, dass wir weniger Stressoren aufnehmen können, ehe das Fass überläuft.

Man könnte das jetzt noch weiterspinnen und überlegen, ob ein mehr oder weniger verstopfter Hahn unten dran ist, der vielleicht einen Einflussfaktor wie eine epigenetische Programmierung, die Entgiftungsfähigkeit der Leber oder auch das soziale Netz symbolisiert, aber lassen wir das mal, das führt vielleicht zu Verwirrung…

Wir Autoimmunbetroffene haben ein gestörtes Immunsystem. Ehe dieses Immunsystem nicht normal funktioniert, bedeutet jeder Lauf durch den Wald, jeder Fitness-Studio-Besuch und jeder Saunagang erst einmal Alarm im Körper. Die Energie, die nötig ist, um hinterher die Reparaturvorgänge in den Muskeln auszuführen, wird vom Immunsystem unter Umständen gerade sehr dringend an anderer Stelle benötigt: Zum Beispiel dafür, eine Entzündung anderswo zum Abschluss zu bringen, Giftstoffe auszuscheiden oder kleine Löcher in der Darmwand zu reparieren.

Ich glaube, wir dürfen getrost alle konkreten Empfehlungen in Frage stellen, die wir in den Massen-Medien zum Thema Sport lesen.
Sie richten sich an gesunde Menschen und nicht solche mit „Gerümpel im Fass“. 
20 Minuten können für die eine ein Warm-up sein, für die andere aber ein Auslöser für den nächsten Schub.

Der Körper braucht Bewegung

Bei alledem bleibt unbestritten, dass wir Bewegung brauchen, damit unser Körper funktioniert. Bitte verstehe mich nicht falsch: Ich meine nicht, dass es für uns gut wäre, sich wenig zu bewegen. Erst durch Bewegung werden Stoffwechselprozesse richtig angekurbelt, kommt die Lymphe in Fluss, die Peristaltik des Darms in Gang, werden die Hormondrüsen angeregt, und vieles mehr. Bewegung ist sicherlich ein zentraler Bestandteil eines gesunden Lebensstils.

Aber es ist eben nicht in Stein gemeißelt, wieviel Bewegung für jede von uns das richtige Maß ist.

Das Thema Sport ent-stressen

Wie finden wir nun die richtige Mitte?

Ich werde dir sagen, wie ich seit diesem Erlebnis damit umgehe.
Ich habe meine Ernährung auf mikronährstoffreich, kohlenhydratarm und genussbetont umgestellt (und noch ein paar andere Besonderheiten, natürlich 😉 )

Mir geht es dadurch ca. 80 % des Tages einfach phantastisch, im Vergleich zu früher. Ich denke gar nicht an Sport, so gut wie nie. 
Aber wenn ich an schönen Abenden beim Kochen aus dem Fenster gucke, die Bäume und ein Stück abendlichen Himmel sehe, und mein Mann kommt gerade nach Haus, dann freue ich mich und drücke ihm den Kochlöffel in die Hand. 
Jetzt noch ein bisschen Ruhe und Natur genießen und ganz bei mir sein, meinen Körper spüren!
Dann ziehe ich meine Sportklamotten an und gehe los.  Ich gehe dort entlang, wo es mich hinzieht. Das ist meistens der Waldrand. 
Ich laufe so schnell oder so langsam wie ich will.
Ich gucke nicht auf die Uhr.
Ich freue mich, dass es noch diesen Wald gibt und dass ich die gute Luft einatmen kann. 
Ich wundere mich nach all der Zeit immer noch leise, wie gut es mir geht.
Wenn ich müde werde und Hunger kriege, laufe ich nach Hause. 

Ich mache mir einfach absolut keinen Stress mehr mit dem Thema, verstehst du?

Ein gesunder Körper liebt Bewegung

Meiner neuesten Erfahrung nach ist es nicht wahr, dass wir für Sport und Bewegung unseren inneren Widerstand überwinden müssen.
Der Widerstand, den wir glauben, überwinden zu müssen, ist die Sprache unseres Körpers, mit der er uns mitteilen möchte, dass wir auf dem falschen Weg sind. Er zupft uns am Ärmel und sagt erst einmal höflich und leise, dann zunehmend energischer: „Da stimmt etwas nicht!“ 

Es ist nicht normal, immer diesen Widerstand zu spüren.  Wenn du ganz gesund bist, wenn dein Immunsystem vernünftig arbeiten kann, dann freust du dich auf deine Runde! Du freust dich darauf, die Muskeln zu benutzen, die Energie im ganzen Körper zu spüren, zu schwitzen, tief zu atmen, ganz und gar im Jetzt zu sein.

Wenn du es schaffst, dein Immunsystem auf den richtigen Weg zu bringen, dann wirst du dir über das Timing, die Trainingslast und die Regelmäßigkeit irgendwelcher Bewegungs-“Einheiten“ überhaupt keine Gedanken mehr machen müssen.

Der Körper sagt dir immer, was er braucht. Er wird dich aus dem Haus treiben, du kriegst ein Kribbeln in den Beinen und dann machst du einfach dein Ding. Du machst, was dir Spaß macht.

Eine Frage der Dosis

Aber… das ist doch kein Sport! Man soll doch mindestens 30 Minuten am Tag richtig schwitzen, und man soll doch auch Krafttrainig machen. Das ist doch alles läppisch, 20 Minuten durch den Wald laufen, ohne Plan, davon werde ich doch nicht fit! 

Wie gesagt, ich pfeife auf diese Empfehlungen!
Mein Körper ist anders als der Standard-Körper in der Sportwissenschaft.
Er braucht eine andere Behandlung um sich wohl zu fühlen. Vermutlich braucht er wesentlich weniger Bewegung, als ich immer gedacht habe. 
Vermutlich steckt er tatsächlich sehr viel Energie in Reparaturvorgänge, weil ich da diese kleine genetische Besonderheit habe. Die Disposition, die mich Dinge, die für andere ganz normal sind, eben nicht einfach so wegstecken lässt.

 Hör auf deinen Körper!

Unser Körper ist ein Wunderwerk: trotz dieser Schwierigkeiten, die er hat, kriegt er immer alles irgendwie zum Funktionieren. 
Wir dürfen lernen, der Sprache unseres Körpers aufmerksam zu lauschen, wenn wir gesund werden wollen.
Denn nur mit dem richtigen Maß an Bewegung und vor allem dem richtigen Maß an Erholung kann der Körper seine so bitter nötigen Reparaturen machen.  
Was bedeutet das für dich?
Ich kann es dir natürlich nicht sagen. Aber ich kann dir Eines versprechen: Wenn du erstmals, vielleicht nach langer, langer Zeit, wieder Lust auf Bewegung hast, wenn du diese Energie in deinen Muskeln spürst, dann ist das ein großes Geschenk! Es wird dir zeigen, dass du mit deinem Gesundheits-Plan auf den richtigen Weg gekommen bist.

Und dann geht es los! 

Wie handhabst du das Thema Sport? Was ist Sport für dich? Hinterlasse mir einen Kommentar!

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Bildquellen

  • Sportschuhe: Margherita Minuzzi
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  • Sportbuecher: Margherita Minuzzi