Hand mit hochgestrecktem Daumen mit Pflaster

Chronisch krank – sei tapfer!

„Komm, Kleine! Gib mir deine Hand. Wenn du jetzt ganz tapfer bist, kriegst du hinterher ein buntes Pflaster.“ 
„Wahnsinn, wie du das alles trägst. Du bist soooo tapfer!“
Es ist ein hilfloses, ein floskelhaftes Lob, das man Kranken gerne gibt.
Was soll man auch sonst zu jemandem sagen, der nur noch da liegt und krank ist?
Die meisten Menschen verbinden mit Tapferkeit etwas tendenziell Positives, auch wenn das Wort ein bisschen altertümlich wirkt. 

Ich dagegen könnte kotzen, wenn ich es höre. Es erinnert mich an eine Zeit, in der ich selbst „tapfer“ war und mich dafür von Familie und Freundinnen, Ärzten und KrankenpflegerInnen loben liess. Das Tapfersein hat mir immer viel bedeutet.
Als schwerkranke, junge Frau hielt ich mich damals verzweifelt an dem Gefühl fest, neben vielen fragwürdigen Eigenschaften wenigstens eine gute zu haben, nämlich tapfer zu sein.

Dieser Artikel ist für dich, die chronisch Kranke – den chronisch Kranken, für alle, die schon länger an einer oder auch mehreren Krankheiten leiden.
Hier eine gesprochene Version für alle Lesemuffel:

Wir gehen diesem Begriff und dieser irgendwie ambivalenten Empfindung, die er in vielen Menschen auslöst, auf den Grund. Am Ende kommt wie immer ein positiver Dreh hinein.

Wann bist du tapfer?

Was heißt es eigentlich, tapfer zu sein?  Wenn ich an tapferes Verhalten bei Kranken und Kindern denke, dann kommt mir sofort Schmerz in den Sinn.  Schmerz durch die Krankheit, Schmerz durch die Behandlung, Schmerz über verlorene Lebensperspektiven.
Oder dieser angstmachende Schmerz, der nicht „vorgesehen“ ist, aber doch plötzlich da, ohne Erklärung, ohne Sinn: Rückenschmerzen vom langen Liegen, Magenschmerzen durch Medikamente, Kopfweh durch Durst, durch Anstrengung. Das ungute Gefühl, dass da – schon wieder! – irgendetwas ganz und gar nicht stimmt. 

Als „tapfer“ wird eine Kranke dann tituliert, wenn sie sich zwar in einer unguten Lage befindet, dies jedoch nicht nach außen trägt. 
„Au! Doch, doch, es geht schon!“ 
Um als tapfer angesehen zu werden, muss zuvor alle Welt wissen, oder zumindest glauben zu wissen, wie es der Kranken geht (nämlich schlecht). Sie muss sich in einer offenkundig unangenehmen Lage befinden, wie z.B. sich ständig erbrechen müssen, 3 Stunden nüchtern im Vorbereitungsraum auf eine Operation warten oder Schmerzen laut äußern.
Erst dann ist die Grundvoraussetzung für Tapferkeit gelegt.
Ohne Leiden keine Tapferkeit!

Dann erst, durch die Reaktion der Kranken auf ihr eigenes Leiden, entsteht ein bestimmtes Bild für die Außenstehenden. 

Hier drei abgestufte Reaktionen auf Leiden:

  1. Variante: wütend werden, aggressiv werden, Hilfe fordern, schreien, laut weinen, sich wiederholt zum eigenen schlechten Zustand äußern —> nicht tapfer
  2. Variante: leise weinen, höflich um Hilfe bitten („wenn es geht“), geduldig warten, sich kurz fassen, nur die wirklich unerträglichen Zustände zur Sprache bringen, nur auf Nachfrage klagen, um Entschuldigung für die Umstände bitten —>  tapfer
  3. Variante: Beides im ständigen Wechsel —> sehr tapfer

Dieses Bild, das sich Außenstehende über die Kranke und ihre angenommenen Leiden machen,  führt zu einer Beurteilung der Reaktion: Ist das angenommene Leiden nur klein, die Schmerzäußerung aber vehement und laut, beurteilt man die Person als wehleidig.
Ist das angenommene Leiden hingegen groß und die Schmerzäußerung dabei unauffällig, wird die Person gemeinhin als tapfer beurteilt. 
Lautes und leises Klagen im stetigen Wechsel führt dazu, dass die kranke Person als besonders tapfer angesehen wird: denn das Leiden ist offenkundig zwar groß, doch der Wille zur Schonung der Mitmenschen ist gnädigerweise gleichzeitig vorhanden. Das finden Leute meistens besonders toll und bewundernswert. 
Soweit meine böse, kleine Analyse aus der Erfahrung von vielen Monaten Krankenhausaufenthalt. 

Tapferkeit ist ein Urteil

Tapferkeit ist keine Eigenschaft, die du hast, oder nicht hast, sondern zuallererst ein Urteil, welches über dich gesprochen wird. Sie ist ein Urteil der Außenstehenden (die nicht wissen, wie es dir geht), dass du dein Leiden „gut“, d.h. angemessen, ausgewogen und sozialverträglich äußerst. Nichts weiter. Es ist eine subjektive, wertende Be-Urteilung deiner Reaktion auf deinen Schmerz. Gutes Leiden, schlechtes Leiden?
Tapfer sein – inwiefern ist das also positiv?  Nunja, für die Außenstehenden ist es natürlich super, wenn du tapfer bist. Es ist ja auch bequem, da macht das Kümmern gleich viel mehr Freude. Aber geht es dir als Leidender besser, wenn du tapfer bist und deine Bedürfnisse hintanstellst? 

Kleiner Ausflug in deine Kinderzeit

Wenn man Eltern von Kleinkindern fragt, ist die Antwort vermutlich eher ein Ja.
Tapferkeit einzufordern scheint manchmal tatsächlich zum Besten des Kindes zu sein. „Sie hat sich völlig hineingesteigert“ sagen wir, wenn die kleine Tochter schluchzend und jammernd ihren völlig intakten Fuß umklammert, von dem wir eben ein altes Pflaster abgezupft haben. 
Wir erinnern aus unseren eigenen Kindertagen vielleicht noch dieses Weinen, in das wir uns immer tiefer sinken ließen, das sich von selbst nährt, und immer heftiger wird. 
Eltern neigen dazu, dieses Weinen, ganz wie oben schon beschrieben, als übertrieben zu werten. Dem zugrunde liegt vielleicht die Annahme, dass das Weinen selbst das ist, was mehr Weinen und somit mehr Leiden hervorruft. Hilf dem Kind da raus, unterbinde das Weinen, und du unterbindest das Leiden. 

Ich bin nicht sicher, ob das wirklich so ist und ob das willentliche Unterdrücken des Weinens zum Ziel führt. Sicher, das Weinen hört auf. Aber geht es dem Kind dann besser? Vielleicht wollte es ja weinen… Vielleicht geht es gar nicht um die verheilte Wunde unter dem Pflaster, sondern um die verlorene Herrschaft über den eigenen Körper und all das, was darauf klebt…?

Du bist in Abhängigkeit

Einen unbestreitbaren Nutzen hat die Tapferkeit, – korrigiere – das darauf folgende Positiv-Urteil der Anderen: Wenn ich abhängig bin, wenn ich dem Goodwill Anderer auf Gedeih und Verderb ausgeliefert bin, so wie das zwangsläufig im Krankenhaus der Fall ist, und überall dort wo Menschen schwer krank sind und Hilfe brauchen, dann ist es über-lebens-notwendig, dass die Pflegenden mich mögen.

Ich habe im Krankenhaus schlimme Dinge gesehen. 
Menschen, die ernsthaft in Not und ohne Fürsprecher waren und dabei das Pech hatten, nicht besonders sympathisch zu sein, oder auch nur die deutsche Sprache nicht gut zu beherrschen, wurden teilweise unsäglich schlecht betreut, gemobbt, in ihrer Not allein gelassen. 
Als tapfer zu gelten, ist ein unschlagbarer Vorteil, denn das Pflegepersonal mag unkomplizierte Menschen und unterstützt sie nach Kräften. Jeder mag Menschen, die ihre Probleme nicht so stark nach außen tragen, die höflich, leise, zuvorkommend, kooperativ und einfach zufriedenzustellen sind. 
Die „perfekte Patientin“ ist leidend, aber tapfer! Auch Angehörige lieben es, wenn wir tapfer sind. Ich wurde fast täglich überschwänglich dafür gelobt, wie tapfer ich doch sei. Es ist die unausgesprochene Bitte, ja sogar die Forderung, auch weiterhin tapfer zu sein.

Manche Menschen ertragen es besser, andere ertragen es schlechter, wenn ihre Lieben leiden müssen. 

Frau Dr. B. -Schluss mit lustig!

Einmal hatte ich ein Erlebnis, das mich nachhaltig geprägt hat: Erst hat es mich geschädigt, dann ent-täuscht, und letztlich schlauer gemacht.

„Sie haben aber auch jeden Tag etwas anderes, Frau Minuzzi!“ schleuderte mir eines Tages eine hilflose Stationsärztin ins Gesicht, als ich mit schrecklichen Schmerzen im Hals versuchte, ihr auf Notizzettel kritzelnd mitzuteilen, dass ich Atemnot hatte. Mir ging es in dem Moment mies wie nie. Später stellte sich heraus, dass es eine Zungengrund-Entzündung war und Wasser in der Lunge, doch das wusste ich noch nicht.
Dieser dahergesagte, dumme Kommentar war der Anfang vom Ende meiner Tapferkeit, für die ich immer gelobt worden war. Wer sich nicht mehr verständlich machen kann, der braucht sich auch keine Mühe mehr zu geben, tapfer zu wirken.
Ich weinte und tobte, aber es half nichts, die Ärztin ging weg, ohne darauf einzugehen.

Nach einer schlimmen Nacht und vergeblichem Warten auf Hilfe war mir plötzlich klar: Wenn ich mich jetzt nicht durchsetze, ersticke ich hier! Ich war richtig, richtig wütend!
Ich raffte mir meine Schläuche, Beutel und den Infusionsständer zusammen und fuhr mit dem Aufzug auf die nächste Etage zu meinem Lieblingsarzt auf der anderen Station. Ich weiß nicht mehr wie, aber ich schnappte ihn mir und machte mein Problem schreibend und mit Gesten verständlich. 
So bekam ich endlich die nötige Hilfe. Ich war nicht tapfer gewesen, aber ich hatte mich selbst gerettet.
Eine Woche später teilte man mir diskret mit, dass diese Ärztin ziemlich schnell gekündigt worden war. Ich war wohl nicht die einzige Geschädigte gewesen. Ein kleines, vergiftetes Gefühl der Genugtuung stellte sich ein, Dankbarkeit gegenüber meinem Lieblingsarzt und auch die leise Frage, wo ich wohl bei dieser Gelegenheit gelandet wäre, wenn ich weiter „tapfer“ gewesen wäre…
Tja, und die Moral von der Geschicht´? Tapfersein lohnt sich, doch im Notfall eben nicht. 🙂 

Selbstbild: Du bist krank

Was bedeutet Tapferkeit nun im Alltagsleben? 
In der Gesellschaft – was immer das für jede von uns konkret heißen mag – ist Tapferkeit im Allgemeinen gern gesehen. 
Wer kennt sie nicht, diese kranken Leute, von denen wir uns beim Familienfest möglichst fernhalten, um nicht ihr ewiges Lamento über ihre Krankheiten anhören zu müssen und dann noch ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn wir sie meiden. Ausgerechnet sie, die gerade so viel Zuspruch und Aufmerksamkeit brauchen!
Selbst, wer solche Menschen nicht in seinem Umfeld hat, kennt dennoch das Klischee der ungeliebten „kranken Tante“ aus Filmen, aus der Literatur, aus den Erzählungen Anderer. 
So wollen wir nicht sein! Wir wollen mit unserer Krankheit nicht hausieren gehen, niemandem auf den Wecker gehen.
Wir wollen kraftvoll, leistungsfähig und gut integriert durch unser Leben gehen, so wie jede andere auch! 

Wir wollen… tapfer sein.

Ich denke, es spricht absolut nichts dagegen, unser Umfeld mit Lamento über unsere Krankheit zu verschonen. Mein Motto für diesen Blog ist ja nicht umsonst „Blog ohne Gejammer“…

Aber!
Wie schnell ist es passiert, dass die Tapferkeit (bedenke: Das Urteil Anderer!) sich in unser eigenes Urteil über uns selbst hinein mogelt!
Das Nicht-Sprechen über die Krankheit, was überall gern gesehen und gefördert wird („Dir gehts aber wieder ganz gut, nicht wahr!“) birgt die Gefahr, dass wir uns selbst gar nicht mehr vollständig wahrnehmen. 
Wir schieben nun einmal gerne unangenehme Gedanken beiseite. Das ist ganz normal, jeder tut das.

Lass uns einmal zu Ende denken, wohin es langfristig führen kann, wenn wir uns täglich im Kontakt mit anderen Leuten verbieten, zu jammern. Was macht das mit uns? 

Ich glaube, wir sind so fixiert auf das Urteil der Anderen, wir wollen so dringend mit unserer Krankheit gemocht und anerkannt werden, dass wir uns das Jammern irgendwann nicht nur im Gespräch, sondern auch in unserem inneren Gespräch mit uns selbst verbieten! 

Wir schieben die negativen Empfindungen weg: „man muss sich damit abfinden“, und „Jammern nützt ja nichts!“. 
Aber wohin führt uns das? Es bleibt dadurch im Grunde alles so, wie es ist. Die Krankheit schreitet allenfalls weiter fort, so wie auch das Altern, das nichts besser werden lässt. 

Wenn wir immer nur tapfer sind, ist es verdammt schwierig, an der aktuellen Situation etwas zu ändern!

Ich meine, wir sollten uns bewusst machen, dass das Ideal der Tapferkeit eine Art Bitte ist, die von der Gesellschaft an uns chronisch Kranke herangetragen wird.
Wir dürfen dieser Bitte gerne stattgeben, solange es sich um Smalltalk handelt.  Aber wir sollten niemals negative Empfindungen, Schmerzen, Sorgen aus unserem Bewusstsein verbannen, nur um diesem zweifelhaften Ideal hinterherzulaufen.
Achtsamkeit dem eigenen Körper gegenüber, eine ganz bewusste Annahme aller Empfindungen, positiver und gerade auch negativer Gefühle, ist die absolute Grundvoraussetzung dafür, dass wir in der Lage sind, für uns selbst einzustehen.
Und dieses „Für-uns-selbst-einstehen“ ist wiederum die absolute Grundvoraussetzung dafür, dass wir aktiv werden, um unseren Zustand zu verbessern. 
Wenn ich meine heutige Einstellung zum Thema Tapferkeit zusammenfassen sollte, würde ich sagen:  Tapferkeit ist toll, sie ist nett, sie ist ein freiwilliger Beitrag zu einem harmonischen Miteinander in dieser Gesellschaft.
Und gleichzeitig muss ich nicht immer tapfer sein!

Der Säugling in dir

Ich darf mir mein inneres Jammern erlauben, ich darf meinem Körper erlauben, sich zu äußern.
Ich muss nicht tapfer sein, um ein wertvoller Mensch zu sein, ich muss nicht einmal gemocht werden.
Ich bin genug, so wie ich gerade bin, ob mit oder ohne Krankheit.

Das Jammern in mir, das in meinem eigenen Kopf laut und deutlich zu hören ist, wenn ich an meiner Krankheit leide, das ist – verdammt noch mal – nicht ohne Grund da. 

Das Jammern und Klagen in mir ist, wie das unüberhörbare Schreien eines Neugeborenen, dazu gemacht, mich selbst zu nerven. Mein Körper generiert es, um gehört zu werden, damit ich endlich etwas gegen die Missstände unternehme!  

Dieser Gedanke, der mir vor noch nicht allzu langer Zeit unerhört egozentrisch vorkam, ist der Keim, aus dem Selbstliebe entsteht. 
Wenn du dich jetzt bei dem Gedanken an „Selbstliebe“ unwohl fühlst, dann kann ich dir versprechen, dass du eine gigantische Verbesserung deiner Gesundheit erleben wirst, sobald du gelernt hast, den Gedanken „ich bin genug“ als deine Wahrheit zu erkennen. 

Denn erst, wenn du anfängst, auf dieses Jammern in deinem Körper zu hören, wirst du beginnen, die wahren Ursachen deiner Krankheiten neugierig zu erforschen.

Nicht um leistungsfähig zu werden, nicht um gemocht zu werden, nein. 

Einfach um deiner selbst willen, um gut zu leben.

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Bildquellen

  • DaumenHoch: Margherita Minuzzi