Zum Umgang mit Heilsversprechern und -Verleugnern
Wenn ich im Internet unterwegs bin und zu Autoimmunkrankheiten recherchiere, stoße ich häufig auf die Aussage „Autoimmunkrankheiten sind unheilbar“, und seltener – meist in Betroffenen-Foren – auf die Aussage „Meine Autoimmunkrankheit ist doch heilbar“.
Ich habe im Gespräch mit vielen Menschen, Betroffenen und Nicht-Betroffenen häufig die Meinung gehört, dass man solchen Einzelaussagen besser wenig Gewicht beimessen solle, dass es unseriös sei, diese Behauptung aufzustellen und dass schwerkranken, verzweifelten Leuten vermutlich mit derlei „Heilsversprechen“ das Geld aus der Tasche gezogen werden solle.
Betroffene in der Vertrauenskrise
Ich bin immer bestürzt darüber, was im DCCV-Forum los ist, wenn mal wieder jemand schreibt: „Juhuuu, meine Colitis hat sich verabschiedet!“
Ich sehe hauptsächlich negative, teilweise richtig wütende Kommentare, und es wird manchmal sogar eine versteckte kommerzielle Absicht unterstellt.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich im Laufe meiner Recherchen eigentlich nur ganz, ganz selten wirklich unseriöse „Heilsversprechen“ à la „Heile deinen Krebs in 10 Tagen“ gefunden. Solche unseriösen, undifferenzierten Versprechen erkennt aber doch der gesunde Menschenverstand schnell selbst als schlichte Werbung.
Ich vermute, dass der Hase anderswo im Pfeffer liegt:
Mir kommt es so vor, dass viele Betroffene so heftig negativ auf das Wort „Heilung“ reagieren, weil dadurch ihr eigener Weg, ihre persönliche Strategie plötzlich in Frage gestellt wird. Es passt nicht in ihr Weltbild, sie fragen sich: „Wie kann es sein, dass andere gesund werden, während ich so leide!?“
Die erfolgreiche, nachhaltige Gesundung – oder nennen wir es mal vorsichtiger „dauerhafte Remission“- anderer Betroffener treibt sie in eine Krise weil sie ihnen das Vertrauen in ihre bisherige Strategie (und die ihrer behandelnden Ärzte) nimmt.
Sie fühlen sich also nicht nur kritisiert in ihrem Weg, sondern neuerdings auch noch völlig im Unklaren darüber, wem sie denn jetzt überhaupt noch vertrauen können.
Ich selbst habe damals Dr. Susan Blums Buch „Autoimmunkrankheiten erfolgreich behandeln“ (in dem ich schwarz auf weiß nachlesen konnte, was ich leider alles nicht probiert hatte) wütend in die Zimmerecke gepfeffert. Irgendwo musste dieses Entsetzen darüber, dass ich die ganze Zeit auf dem falschen Weg war, ein Ventil finden.
Der „Überbringer der schlechten Nachricht“ wird ja bekanntlich häufig (fälschlich) bestraft… 😉
Eine Sache der Definition
Ich habe mir also lange überlegt, ob ich mir die Aussage: „Autoimmunkrankheiten sind doch heilbar“ zueigen machen möchte, weil es für mich die Realität beschreibt. Oder … ob ich es anders formuliere. Mittlerweile bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass man es tatsächlich so nicht sagen sollte. Nicht, weil ich die Kritik von Seiten der anderen Betroffenen scheue, sondern weil dieser Satz einfach zu viele unklare Formulierungen beinhaltet.
„Autoimmunkrankheiten“ und „heilbar“ sind beides schwammige Begriffe:
Schwammiger Begriff: Autoimmunkrankheiten
Es sind vermutlich nicht einmal alle Autoimmunkrankheiten bekannt und definiert.
Die Definitionen ändern sich im Laufe des Erkenntnisgewinns durch Forschung. Wir dürfen nicht alle Menschen, alle Gene, alle Stadien der fortgeschrittenen Zellzerstörung, alle verschiedenen Gewebearten und verschiedene Organe über einen Kamm scheren. Man kann sicherlich immer einige subjektiv empfundene Ausprägungen verbessern und fortschreitende Prozesse stark verlangsamen, vielleicht sogar stoppen.
Aber ehe wir nicht bei jeder einzelnen Krankheit verstanden haben, was da auf epigenetischer Ebene vor sich geht, und ehe wir die Zeit nicht zurückdrehen können (wie in Waddingtons Modell der kullernden Murmel bei Peter Sporks „Der zweite Code“ erklärt), können wir selbstverständlich auch beim allerbesten Willen nicht sagen, dass Autoimmunkrankheiten heilbar sind.
Schwammiger Begriff: Heilbar
Heilbar. Es ist irgendwie ein seltsames Wort, nicht wahr? Heil- und -bar. Es könnte alles mögliche heißen. Dazu finde ich in Wikipedia dies :
„-bar ist ein häufiges Suffix beim https://de.wikipedia.org/wiki/-barAdjektiv, das der Wortbildung dient. In den meisten Fällen werden transitive Verben mit Hilfe von -bar zu Adjektiven abgeleitet. Beispiel: aus „heilen“ wird „heilbar“. Die Bedeutung von -bar lässt sich mit können umschreiben, da es auf eine Möglichkeit hinweist: „heilbar“ bedeutet dann, dass jemand „geheilt werden kann“. „ Wikipedia
Ich verstehe es gewohnheitsmäßig erst einmal von der Warte einer Patientin der klassischen Medizin her: Eine Ärztin macht etwas mit der Patientin und die Patientin wird gesund. Das Wort „heilbar“ beinhaltet da also den Aspekt des Handelns, des aktiven Eingreifens.
Betrachten wir einen komplizierten Beinbruch, dann ist das unstrittig:
Der Knochen muss gerichtet werden, sonst wächst er nicht richtig zusammen. Aber das eigentliche Heilen, das Zusammenwachsen, das macht der Körper selbst, richtig?
Wie sieht es mit Autoimmungeschehen aus? Was macht die Ärzteschaft da? Wenn sie Immunsuppressiva oder Glucocorticoide verschreibt, kann sie die die Entzündung unterdrücken bzw. hemmen. Aber – und das sagt die Schulmedizin ja selbst – das ist nicht dasselbe wie „Heilen“, weil der Körper immer wieder mehr Entzündung produziert. Anders als bei dem Beispiel mit dem Knochenbruch heilt sich der Körper also in der Folge der Behandlung nicht selbst.
Man könnte das Wort „heilbar“ aber auch, ganz nah an der ursprünglichen sprachlichen Bedeutung, als theoretische Möglichkeit der Heilung verstehen. „Heilbar“ würde hier einfach nur bedeuten, dass es die Möglichkeit einer Heilung gibt. Diese Betrachtungsweise lässt offen, wodurch die Heilung erzielt wird.
Es heißt also: Es besteht unter (unbekannten, hier nicht näher definierten) Umständen die Möglichkeit, dass der Körper sich selbst heilt.
Mit dem Wortverständnis kann, hoffe ich, jeder d´accord gehen, denn es gibt sie ja immer wieder, die berühmten „Spontanremissionen“, nicht wahr?
Wieder zurück zur Ursprungsfrage! Wir haben gesehen: Man kann tatsächlich nicht einfach so sagen, dass Autoimmunkrankheiten „heilbar“ sind, denn die Thematik ist viel zu komplex.
Aber: Kann man das Gegenteil behaupten, nämlich dass Autoimmunkrankheiten NICHT heilbar sind?
Ich glaube, auch das ist falsch. Nur weil wir nicht genau wissen, was passiert, heißt es ja nicht, dass wir nicht trotzdem zur richtigen Zeit die „richtigen Schalter“ mithilfe von Lebensstilfaktoren umlegen können.
Gene und Lebensstilfaktoren
Hier müssen wir anfangen zu differenzieren und zwischen irreversiblen, unveränderlichen Fehlprogrammierungen und/oder echten Gendefekten auf der einen Seite und den veränderlichen Fehlprogrammierungen (Epigenetik) auf der anderen Seite unterscheiden. Es wird sicherlich Menschen geben, die von Anfang an so unglücklich (genetisch) ausgestattet und früh so ungünstig geprägt (epigenetisch programmiert) wurden, dass sie alles Mögliche ausprobieren können und trotzdem erfolglos bleiben.
Aber dem gegenüber stehen ja all die Menschen, die unwissend durch einen ganz „normalen“ Lebensstil, den sie führen, in den sie hinein geboren und hinein erzogen wurden, permanent die (theoretisch veränderlichen!) epigenetischen Schalter auf „Autoimmunreaktion“ stellen. Sind die Autoimmunerkrankungen bei diesen Menschen heilbar? Ich denke, dass sich viele Betroffene selbst heilen könnten, wenn Sie die „richtigen Schalter“ finden und umlegen würden.
Das ist natürlich der Knackpunkt dabei! Diesen „richtigen Schalter“ zu finden und dann die Praxis, d.h. die konkrete Umsetzung, auch hinzubekommen erfordert Hirnschmalz und eigenes Engagement.
Es ist wohl oft leider nicht mit einer einzelnen Intervention getan.
Es gibt sie nicht, die „Autoimmunpille“, die wir uns wünschen würden.
Ich finde es nicht besonders konstruktiv, wenn uns von ärztlicher Seite gesagt wird: „Ihre Krankheit ist unheilbar“.
Es suggeriert, dass die Krankheit generell unheilbar ist, wie eine Art tödlicher Vergiftung oder Verstrahlung, auch wenn eigentlich nur gemeint ist „Ihre Krankheit ist mit unseren Methoden und Medikamenten unheilbar“.
Woher soll die Patientin die Weitsicht nehmen, diesen feinen Unterschied wahrzunehmen?
Der Stempel „unheilbar“ ist meines Erachtens genauso falsch und ausserdem viel schädlicher und gefährlicher für uns Autoimmunbetroffene als die Aussage „Autoimmunkrankheiten sind heilbar“.
Gefährlicher und schädlicher deswegen, weil er uns von vornherein die theoretische Möglichkeit, das „-bar“, abspricht, selbst etwas tun zu können.
Wir sollten uns vor „Heilsverleugnern“ eher in Acht nehmen als vor den Heilsversprechern!
#autoimmun #heilung #unheilbar #epigenetik #autoimmuntier #spontanremission
Bildquellen
- UnheilbarBeitragsbildweich: Margherita Minuzzi
Hallo Margherita 🙂
finde das du das sehr schön beschrieben hast.
Finde deine Einstellung klasse und kann das total nachvollziehen.
Stehe auch aktuell an dem Weg wieder ein neues Immunsuppressiva und/oder auch mal zu versuchen mich einfach besser/anders zu ernähren.
Natürlich klug und nicht verantwortungslos mit mir umgehend, wie ich manch einem aus meinem Umfeld aus den Augen lesen kann, sondern besonnen und wohlüberlegt. 😉
Hab mal deinen Blog gebookmarkt und lese dich immer mal mit.
Liebe Grüße Mullchen
Hallo Mullchen,
ja, die Sorgen über das, was das Umfeld über meinen Weg denkt, kenne ich auch nur allzu gut… Ich freu mich, dass du mit „an Bord“ bist!